Hier meine Erfahrungen, vielleicht sind sie ja für den einen oder anderen hilfreich:
Glarus ist einer der 26 Schweizer Kantone, dessen Namen nicht ortsansässigen Schweizern bei der Aufzählung aller Kanton meist zuletzt oder gar nicht einfällt. Die Menschen gelten als verschrobene Sonderlinge, die in ihrem engen und tiefen Tal leben und nach Möglichkeit jeden Kontakt mit Auswärtigen meiden. Und unter Auswärtigen fallen hier schon Außerkantonale. Von Ausländern ganz zu schweigen.
Auch ich gehörte in Deutschland zu denjenigen, die noch nie in ihrem Leben etwas von diesem Landstrich gehört hatten. Aber mir stand der Sinn irgendwie nach Veränderung, das vom Headhunter angebotene Gehalt war gut und die Steuersätze klangen niedrig. Also sagte ich schnell entschlossen zu, packte meine sieben Sachen und zog ins Alpental.
Auf den ersten Blick wirkte das Tal nicht uneinladend, reichlich altmodisch zwar, wie ein Modellbahn-Wunderland aus den 1960er Jahren. Und da ich im Sommer ankam, konnte ich noch nicht wissen, dass das Leben zwischen 2000-Meter-hohen Felswänden auch heißen würde, dass der durchschnittliche Wintertag, sofern nicht wieder wochenlang die Wolken im Tal hingen, maximal 1-2 Sonnenstunden bieten würde.
Die Menschen an meiner Arbeitsstelle wirkten reserviert, aber durchaus freundlich. Die Kommunikation auf Schweizerdeutsch war schwierig. Das sollte man nicht unterschätzen: Für alle Deutschen, die nördlich des Mains aufgewachsen sind, ist das Schweizerdeutsche mit seinen unzähligen Dialekten und Abwandlungen eine Fremdsprache. Und wirkliche Sprachschulen dafür gibt es nicht. Schweizerdeutsch lernen ist harte trial-and-error-Arbeit im Alltag. Und die Schweizer machen es einem dabei auch nicht einfach, verwenden immer ihren Dialekt, selbst wenn sie merken, dass man sie nicht versteht.
Etwas stutziger wurde ich dann schon im Einkaufszentrum. Ein sehr mitteilungsbedürftiges Ehepaar klettete sich an mich ran, fragte mich woher ich käme und wann ich wieder ginge. Sehr einladendes Erstgespräch! Und sie stutzten erkennbar bei meiner Antwort, dass ich länger bleiben wolle. Danach schwallten sie mich zu mit Schweizer Politik, was mich zu diesem Zeitpunkt null interessierte, schwärmten von der Schweizerischen Volkspartei SVP und deren Übervater Christoph Blocher, der würde endlich mal richtig anpacken und aufräumen.
Die SVP ist die größte Schweizer Partei, die in machen Regionen bis zu 50 Prozent der Stimmen einsackt und so stramm rechtsnational ist, dass einem die deutsche AfD dagegen fast linksliberal vorkommt. Es ist also in etwa so, als würde man als Deutscher einem Ausländer gegenüber im Erstgespräch von Adolf Hitler vorschwärmen.
Warum ich das so ausführlich schildere? Nun… was man für einen skurrilen Einzelfall halten könnte, wiederholte sich in der Folgezeit immer wieder. Ich hatte mich in Europa niemals zuvor irgendwo als Ausländer gefühlt. Fremde Geburtsorte waren für mich eher ein Indiz für interessante Biographien, nicht für Ausgrenzung und Abwertung. Hier war das offenbar anders.
Das fing schon beim “Ausländerausweis” an, den man per Formular mit der “Unterschrift des Ausländers” unterzeichnet beantragen musste. Und nach einem undurchsichtigen Quotensystem zugeteilt bekam oder nicht. Grundsätzlich schon ja, aber möglicherweise auch nicht. Und nicht heißt dann Heimreise nach drei Monaten bei automatischer Auflösung des Arbeitsvertrages. Ohne Möglichkeit, gerichtlich dagegen vorzugehen.
Das war im Job nicht anders. “Ich hätte aber lieber einen Schweizer.”, war der Standardsatz den ich fast täglich zu hören bekam. “Dann müssen Sie mehr davon ausbilden und nicht im Ausland abwerben!”, dachte ich mir dann leise. Und auch sonst gab es im Job klare Hierarchien. Erst die Schweizer, vom Geschäftsführer bis zur Putzfrau, dann die Deutschen, immerhin noch vor Albanern und Kosovaren. Die mögen sie noch weniger.
So konnte es dann passieren, das eine Schweizer Putzfrau eine ganz absurden Vorwurf gegen einen rangmäßig wesentlich höheren deutschen Angestellten äußerte und ihr automatisch Glauben geschenkt wurde, einfach nur weil sie Schweizerin war.
Auch in der Gesellschaft war das Klima gegen Ausländer stets recht frostig. Ich hatte mich nie sonderlich für Schweizer Politik interessiert und war relativ unvorbereitet da rein geraten: Just kurz vor meine Ankunftsphase platzte das erste von der rechtsnationalen SVP initiierte Referendum, dass den Zuzug von Ausländern begrenzen sollte und überraschend dann auch eine knappe Mehrheit fand. Zwei Jahre später scheiterte ein weiteres Referendum knapp, dass Ausländer bei kleinsten Vergehen, worunter auch schon Übersehen eines Tempo-50-Schildes am Ortseingang oder eine fahrlässige Körperverletzung bei einem Autounfall fallen konnte, also keine Schwerstdelikte), dass Ausländer schon bei kleinsten Vergehen automatisch und ohne Widerspruchsmöglichkeit des Landes verweist.
Aktuell, weitere zwei Jahre später, arbeitet die SVP an der Lancierung des nächsten ausländerfeindlichen Referendums, dass das erste Referendum verschärfen soll, das nach Meinung der SVP nicht streng genug umgesetzt wurde.
Nun kann man sicher sagen, gut, da wurde ja nur ein Referendum angenommen und auch nur deutlich entschärft umgesetzt. Was man dabei vergisst, ist, dass all diese Referenden die öffentliche Debatte über Jahre bestimmt und man in den Medien, an den Straßen und im Briefkasten permanent Wahlwerbung findet, die in Deutschland den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen würde und eindeutig und unmissverständlich gegen - genau - einen selbst - gerichtet ist. Da braucht man schon ein dickes Fell.
Kommen wir zu den Finanzen, weil deswegen bin ich ja ganz klar gekommen. Das Gehalt klang sehr gut, die niedrigen Steuersätze in der Deutschweiz von um die 15-20% auch. Doch was bedeutet das in der Realität?
Zunächst will der Franken in Euro umgerechnet werden. Der Kurs war vor einigen Jahren nur kurz bei 1:1, im Durschnitt liegt er zwischen 1,10 und 1,20 Franken pro Euro. Das vergisst man manchmal beim groben Überschlagen.
Dann muss man sagen, dass die Schweiz kein klassischer Sozial- und Rechtsstaat ist. Weniger Steuern heißt auch dramatisch weniger Sozialleistungen und staatliche Angebote. Krankenversicherung ist komplett Privatsache, inklusive Selbstbehalt. Das ist bezahlbar, wenn man zu den nicht versicherten Zahnbehandlungen ins nahe Ausland fahren kann.
Schwieriger kann es schon werden, wenn man irgendwann mal aus gesundheitlichen Gründen oder durch Jobverlust durchs Netz fällt, denn dann fällt man tief. Wo in Deutschland dann immer noch irgendeines der zwar zu Recht kritisierten aber dennoch irgendwie funktionierenden sozialen Sicherungssysteme greift, fällt man in der Schweiz nach kurzer Arbeitslosigkeit bereits in einen Sozialhilfestatus, der prekärer nicht sein könnte. Wer nichts leistet, ist nichts wert, das ist die Maxime. Und gegen die Willkür der Beamten kann man auch rechtlich nicht vorgehen.
Das ist mir zum Glück nicht passiert, aber ich habe es erster Hand bei Bekannten erlebt, die recht unzweideutig ins Heimatland zurückgedrängt wurden.
Ansonsten… Lebenshaltungskosten… dass diese höher sein würden, war mir schon klar, aber nicht, dass sie so hoch sein würden. Für eine 3-Zimmer-Wohnung mit mit Deutschland vergleichbarem Standard bezahlt man im Raum Zürich gerne auch mal 3000 Franken oder mehr im Monat. Kalt. in Glarus waren es immer noch um die 2000 Franken. Es geht auch billiger, aber dann sinkt der Status erheblich auf 50er-Jahre-Niveau, grüne Badezimmerfliesen oder Ofenheizung. Kann man machen, wenn man nur kurz zum Geld verdienen kommt, aber für länger?
Das Einkaufen ist zum Teil absurd teuer. Im Schnitt das 3-fache des deutschen Preisniveaus. Ein Blumenkohl bis zu 8 Franken, eine Gurke 2, ein Kilo Hackfleisch niedrigster Qualität (aus der EU natürlich) 10 Franken, Schweizer Nicht-Bio-Fleisch 35 Franken pro Kilo. Ganz heftig wird der Preisvergleich bei Kosmetikprodukten, die es völlig identisch auch jenseits der Grenze zu kaufen gibt. Das kostet ein Deostick mal schnell statt 1,79 EUR 8,99 CHF oder ein Shampoo statt 2,99 EUR 12,49 CHF. Das läppert sich.
So fährt man dann doch gerne wieder zurück nach Deutschland oder Österreich, in meinem Fall im Schnitt einmal die Woche. Dort konnte ich dann auch wieder im Versandhandel zu normalen Preisen einkaufen.