«Ich habe die Schnauze voll von der Schweiz»
Fast 310’000 Deutsche lebten letztes Jahr in der Schweiz. Viele sind nach einigen Jahren aber enttäuscht über die Schweizer Gesellschaft. Sechs Deutsche erzählen, wieso sie die Schweiz wieder verlassen wollen.
Malerische Landschaften, Berge, Seen, eine hohe Lebensqualität und hohe Gehälter locken viele Einwanderer und Einwanderinnen in die Schweiz. 20min/Simon Glauser
Deutsche Einwanderer und Einwanderinnen erfahren laut eigenen Aussagen viel Ablehnung in der Schweiz. Selten seien Schweizerinnen und Schweizer zu ihren Apéros erschienen, sagt eine Leserin. Gegeneinladungen habe sie keine erhalten.
Auch Kinder helfen nicht immer, dass der deutsche Elternteil besseren Anschluss in der Schweizer Gesellschaft findet.
Darum gehts
Mit etwa 309’500 Personen stellen Deutsche die grösste Einwanderungsgruppe hierzulande. Hohe Löhne, schöne Landschaften, tiefe Steuern und eine hohe Lebensqualität locken zahlreiche Deutsche. Doch in den letzten Jahren gingen die Einwanderungszahlen zurück: 2010 zogen noch 30’700 Deutsche in die Schweiz, 2020 waren es nur noch 19’700.
In den vergangenen Jahren wanderten zwischen 12’000 und 15’000 Deutsche pro Jahr zurück. Sechs Deutsche berichten, warum sie der Schweiz teils nach Jahren wieder den Rücken zukehren.
Gemeinsame Sprache, unterschiedliche Kulturen
«Ich will schnellstens zurück», sagt Leser G.S.* 2008 sei er aus Deutschland abgeworben worden und in den Kanton Luzern gekommen. Die Vorfreude sei gross gewesen. Seine Frau zog später nach. Als er an Krebs erkrankte, habe sein Arbeitgeber ihn entlassen. Später erkrankte seine Frau schwer und musste notoperiert werden. Wegen ihres Zustands sei eine Rückkehr aktuell nicht möglich. G.S.* ist ernüchtert: Das Gesundheitssystem sei katastrophal, auch menschlich ist er enttäuscht.
Immer wieder habe er Ablehnung von Schweizerinnen und Schweizern erfahren. «Die Schweizer sind gefühlskalt», so G.S.* Mehrmals habe er im Treppenhaus die Nachbarn und Nachbarinnen gegrüsst und versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Jedes Mal sei er ignoriert worden. Er habe die Kontaktaufnahme aufgegeben und habe nun vorwiegend deutsche und ausländische Freunde und Freundinnen.
Viele Leserinnen und Leser berichten Ähnliches. Trotz langem Aufenthalt in der Schweiz haben viele Deutsche es nicht geschafft, einen Freundeskreis mit Schweizerinnen und Schweizern aufzubauen. «Wir sprechen zwar dieselbe Sprache, sind aber charakterlich meilenweit voneinander entfernt», sagt Leser T.T.*
Integration auch mit Schweizer Partner schwierig
Viele Deutsche fühlten sich gehänselt, diskriminiert und ausgegrenzt. Aber auch die fehlende Spontanität macht manchen zu schaffen: «Freunde kann man höchstens zu einem lang geplanten Event treffen», so Leserin I.L.* Zudem sei ihr das Leben in der Schweiz zu anonym. «Man weicht sich selbst unter Nachbarn aus.» Obwohl sie seit 22 Jahren in der Schweiz lebe und mit einem Schweizer verheiratet sei, würde sie gerne zurück nach Deutschland.
Dass sich die Situation mit einem Schweizer Partner oder Partnerin und Kindern nicht verbessert, berichtet auch Leserin S.B.* Sie hat erst in St. Gallen gelebt, dann in Zürich. In die Schweiz kam sie für einen Ex-Partner. Mittlerweile ist sie seit 20 Jahren hier. Noch immer fühle sie sich nicht wohl in der Schweiz. Das liege etwa an Kommentaren, wie «oh nee eine Dütschi» oder Vorurteile gegen Deutsche. Auch habe sie wiederholt Bekannte und Nachbarn und Nachbarinnen zum Apéro eingeladen, erschienen seien die wenigsten. Gegeneinladungen habe es keine gegeben.
Was ihr in der Schweiz besonders fehlt? «Die Lockerheit. Dass man sich mal auf einen Kaffee trifft. Spontanität und Humor sind hier Fremdwörter.» Mittlerweile wünscht sie sich, zurückzukehren: «Ich würde alles dafür geben, die Zeit zurückzudrehen, will aber die Familie nicht zerstören.»
Unerwünschte spontane Besuche
Nach 18 Jahren in der Schweiz steht auch I.S.* kurz davor, die Schweiz zu verlassen. Aus zwischenmenschlichen und aus wirtschaftlichen Gründen. «Ich habe die Schnauze voll von der Schweiz», sagt I.S.* Nach einer Verletzung habe sie keine Unterstützung von der IV erhalten und hadere mit steigenden Lebensmittelpreisen und Krankenkassenprämien.
Eine, die nach 19 Jahren die Schweiz verlassen hat, ist A.H.* Sie lebte in verschiedenen Kantonen und habe «besonders beruflich eine gute Zeit erlebt». Ihr Freundeskreis habe aber ausschliesslich aus Ausländern und Ausländerinnen bestanden. «Schweizer tendieren dazu, ihre Seilschaften aus dem Kindergarten bis ins Erwachsenenalter zu pflegen und niemanden sonst in ihr Leben aufnehmen zu wollen», sagt sie.
Als distanziert beschreibt sie die Schweizer und Schweizerinnen. Sie habe etwa einer Kollegin, mit der sie viel unternahm, zum Geburtstag gratulieren wollen. Als sie spontan mit einer Flasche Champagner und einem Blumenstrauss bei ihr vorbeiging, sei sie nicht hinein gebeten worden. Stattdessen habe ihre Kollegin ihr mit den Worten «Heute feiere ich nur mit der Familie und den engsten Freunden. Du kannst ein andermal kommen» die Tür vor der Nase zugeschlagen.
*Namen der Redaktion bekannt
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