Flüssiger Start
Im Juni 2022 bin ich
ins Bündner Land in ein idyllisches Dorf in die nähe von Chur
gezogen. Meine Situation war aus mehreren Gründen ziemlich offen:
- Die Situation
an meinem letzten deutschen Arbeitsplatz (Brief- und Paketzusteller)
wurde wegen Personalmangel und Sparmaßnahmen immer angespannter,
sodass ich dachte, es könne wo anders eigentlich nur besser werden.
- Meine
Partnerschaft ging zu Ende, Freunde hatte ich an dem letzten Wohnort
kaum
- Somit war auch
die Frage, wie (und wo) ich weiter wohnen will
- Nach einem
total spannenden Aufenthalt als Working Guest in einem alternativen
Schweizer Seminarhaus war ich neugierig, was in diesem Land noch so
wartet.
Zudem das Thema
Corona: Es wird niemand von uns in seiner Gänze fassen können –
ich entschied mich auf jeden Fall, dass mir für meine Gesundheit
eine möglichst angstfreie Umgebung am besten tut und die Schweiz
erlebte ich als eine Brise sanfter und schneller wieder zurück von
den einschneidenden Maßnahmen.
Als ich mich im März
dafür entschieden hatte und einige Bewerbungen als Zusteller für
Briefe und Pakete rausschickte, ging es ruck zuck: bald hatte ich ein
Bewerbungsgespräch am Telefon und kurz darauf war ich in traumhafter
Bergkulisse Probearbeiten. Mir gefiel, wie viel Zeit sich zum
gegenseitigen Kennenlernen genommen wurde. Ich sah, dass es zwar ein
hohes Arbeitspensum und eine aufwändige Tourenvorbereitung gab
(Werbung sortiere ich Blatt für Blatt von Hand vor), aber ich
erlebte einen wesentlich geordneteren Ablauf als das Chaos bei meinem
Deutschen Arbeitgeber. Zwischen den Zeilen hörte ich aber schon
auch, dass es auch hier schwer ist, geeignete Leute zu finden. Die
günstige, stilsichere Wohnung fand ich an nur einem Wochenende! Mehr
Zeit hätte ich auch nicht gehabt. Es wurde eine (sozial eher
zweckmäßige) 2er WG mit Kachelofen in einem idyllischen Dorf in der
Bündner Herrschaft.
Meinen Abschied in
Deutschland feierte ich wie in einem Postboten-Traum: Ich lud meine
ganze Zustelltour in den Biergarten ein – um noch einmal gemeinsam
auf das tolle Dorf anzustoßen. Meine Lust zu tanzen war erwacht,
sodass ich dort zum gemeinsamen Tanz einlud. Wie zur Krönung bekam
ich dann noch einen richtigen Schweizer Jodler mit auf den Weg.
Fühlte sich sehr euphorisch an!
Schwindende Euphorie
Im Job kam ich dann
in ein anderes Team wie ursprünglich geplant war. So bekam ich einen
Bezirk mit Wohnblöcken statt Einfamilienhäusern an Berghängen. Die
Einarbeitung war für mich eher bedächtigen Typen recht mühsam,
zeigte sich doch, dass ich mit der Menge und der Zeiterwartung
überfordert war. Kaum hatte ich mich halbwegs an die Tour gewöhnt, wurde sie vergrößert, sodass ich diese 30-45 Minuten auch noch in der Regelzeit unterbringen können sollte. Es stellte sich zwar etwas Routine ein und
irgendwie kam ich auch durch die erste Weihnachtszeit. Die
Anforderung des Arbeitgebers bleibt aber weiter höher, ich sollte
eine Stunde am Tag schneller sein. Das ist bitter. Ich arbeite im
Laufschritt, rede mit keinem Kunden und bemühe mich jeden Tag. Am
Ende der Zustellung schaue ich aber dann doch meist in ein langes
Gesicht, weil ich hätte schneller sein können. Es mischt sich ein
Gefühl aus Frustration und nicht so recht akzeptiert werden.
Von meiner 80% Stelle kann ich als junger, gesunder Mensch derzeit bescheiden leben. Wenn
ich keine überraschenden Ausgaben habe, bleiben pro Monat 500-1000
Franken auf dem Konto übrig. Nach Fülle fühlt sich das nicht an, denn im Notfall muss ich ja zu großen Teilen für meine Gesundheitskosten aufkommen und das Auto Instand halten. Trotz schwindender Euphorie halte ich weiter im Job durch. Und jetzt kann ich klar sagen:
Die beruflichen und
persönlichen Themen wandern mit aus.
Ich bin kein
geborener Zusteller, mit meinem Studium im sozialen Bereich schaffte
ich es nie so recht etwas anzufangen und wirklich gute Ideen in eine
berufliche Größe (oder Entspanntheit) zu kommen habe ich gerade
keine. In der Leistungsorientierten Schweiz habe ich mir nun eine
große Herausforderung gesucht, einen guten weiteren Berufsweg zu
finden. Die tolle Lebensgemeinschaft, die ich mir manchmal
vorstelle... die gerne hätte dass ich bei ihnen einziehe und gleich noch einen
tollen Job für mich hat… die habe ich hier leider auch noch nicht
gesichtet.
Als Single fühle
ich mich hier oft allein, die 2er WG ist sehr zweckmäßig. Wirklich
freundschaftliche Kontakte aufzubauen, das braucht wohl noch etwas
Geduld. Frauen scheinen hier in Graubünden entweder bereits vergeben
oder haben sich fest im Singlesein eingerichtet...
Trotzdem ist
der private Bereich mein Highlight:
Tanzen, Yoga und
Wein
Es fing leise in
Deutschland an, so richtig habe ich ihn dann aber erst in der Schweiz
entdeckt: Freien Tanz (5 Rhythmen, Ecstatic Dance, u. ä.). Meist
barfuss, manchmal in Kirchen immer in wohlwollender Atmosphäre. Rauskommen
aus dem Kopf. Wenn es Begegnung gibt, genieße ich den nonverbalen
Kontakt, das Spiel von Nähe und Distanz und dabei die Menschen ganz
wesentlich wahrzunehmen. Das Tanzen in Chur, manchmal auch Zürich,
Luzern und St. Gallen rettet mich über einsame und frustrierende
Momente, gibt mir Energie. Und ich lerne Leute kennen: Meine besten
Bekanntschaften sind hier übers tanzen entstanden und es gibt sehr herzliche Begegnungen. Silvester wurde
ich zu einer Veranstaltung eingeladen und durfte unkompliziert mit
den drei Schweizer Tänzerinnen im Jugendherbergszimmer übernachten. Ein
anderes Highlight war, dass ich in meinem Dorf eine tolle Yogalehrerin
fand, bei der ich auch noch bei der Weinernte mithelfen konnte.
Die magische Quelle
An einem eher
traurigen Tag machte ich mich zur Tamina-Quelle auf. Von diesem
Naturwunder war ich total berauscht. So wanderte ich dann durchs
nächste Dorf und wie von Zauberhand blieben meine Augen an einem
Plakat hängen. Im Dorf gab es eine Veranstaltung, zufällig an
diesen Abend. Ich ging dann hin und lernte eine Gruppe Frauen kennen,
die gerade einen Verein gründeten. Und wie es nun aussieht, kann ich
dort mitmachen und unter dem Verein eigene Angebote machen, rund um
Spiritualität und Meditation. Solche Reihungen von Zufällen hatte
ich bei meinem Schweiz-Unternehmen öfter. Ob nun magischer
Rückenwind oder Glück, ich nehme beides weiter an und geh meinen
Weg hier weiter...